Seit den 70er Jahren verbindet mich eine enge Freundschaft mit Achim Schlang. Achim ist die deutsche Formel-1-Reporter-Legende schlechthin - mehr als 560 Grands Prix hat der gebürtige Bonner live erlebt. 1953 sah er seinen ersten Großen Preis auf dem Nürburgring, und noch heute besucht er regelmäßig Formel-1-WM-Läufe. Achim machte aus seiner Passion einen Vollzeit-Job: Er arbeitete mehrere Jahre als Chef-Reporter für die deutsche Automobilsport-Zeitschrift "rallye racing" und verfasste ab 1985 die Jahrbuchreihe "Grand Prix - Die Rennen zur Automobil-Weltmeisterschaft". Außerdem schrieb er Bücher über Michael Schumacher, Formel-1-Piloten und arbeitete für zahlreiche nationale und internationale Motorsport-Fachmagazine, ab 2000 als Freelancer. Den FIA PRESS "HONORARY MEMBER", die höchste Auszeichnung für Formel-1-Berichterstatter, erhielt er von Bernie Ecclestone für 500 Grands Prix. Mit Achim fuhr ich in den 70er und 80er Jahren zu zahlreichen GP-Rennen nach Monaco, Le Castellet, Dijon, Monza, Imola, Silverstone, Brands Hatch, Zandvoort, Spa-Francorchamps, zum Österreich-Ring, nach Zolder, nach Hockenheim und auch zum Nürburgring. Wir erlebten einmalige Rennen und verbrachten unvergessliche Stunden an Rennstrecken, die heute leider der Vergangenheit angehören, und auch "unsere Formel 1" hat sich teils drastisch verändert ...
Für unser Buch "Sharknose" schrieb Achim Schlang den nachfolgenden Artikel über die Geschichte des Ferrari 156, der nach den beiden Weltmeistertiteln 1961 (Fahrer- und Konstrukteurs-Wertung) in der darauffolgenden Grand Prix-Saison nur noch für Plätze im Mittelfeld gut war. Ferraris Erwartungen erfüllten sich damit in keinster Weise - das Ende der "Sharknose" war besiegelt ...
Lange bevor die Gesetze der Aerodynamik und einschränkende Vorschriften das Design eines Formel-1-Autos bis an die Grenze der Uniformität bestimmten, unterschieden sich die Konstruktionen der Rennställe gewaltig. Zu den auffälligsten Grand Prix-Rennwagen zählt zweifelsfrei der Tipo 156 Sharknose der Scuderia Ferrari. Die Geschichte des legendären Autos begann streng genommen am 29. Oktober 1958, jenem Tag, an dem Ferrari-Pilot Mike Hawthorn für den Gewinn der Formel-1-Fahrer-Weltmeisterschaft geehrt wurde und Tony Vanderwell den Pokal für das beste Team, Vanwall, entgegennahm. Kaum hatte sich der Applaus der Anwesenden gelegt, da vergällte Auguste Perouse den überwiegend britischen Gästen den Abend: Der CSI-Präsident verkündete, was ein siebenköpfiges Gremium zuvor hinter verschlossenen Türen ausgeheckt hatte: Ab 1961 werde der maximale Zylinderinhalt der Formel-1-Motoren nicht länger 2,5 Liter, sondern vielmehr 1,5 Liter betragen. Die Entscheidung war mit 5:2 Stimmen gefallen. Auf Ablehnung war die neue Formel lediglich beim britischen und – nicht ohne Bedeutung – beim italienischen Vertreter gestoßen.
Während die in England ansässigen Teams die verordnete Aufwertung der Voiturettes nicht so recht glauben wollten, nahm Ferrari das neue Projekt geradlinig in Angriff: Konstrukteur Carlo Chiti konzentrierte sich zunächst auf eine zweite Generation jenes hauseigenen Formel-2-Motors, der 1957 als „Reduktion" des 2,5-Liter-Sechszylinders entstanden war. 1960 wurde das Triebwerk in Monte Carlo als Kraftquelle einer Mittelmotor-Konstruktion – einem „Rohling“ des Tipo 156 – seiner Feuertaufe unterzogen. Der US-Amerikaner Richie Ginther, Werks- und Testfahrer, wurde als Sechster gewertet, womit er gemäß des damaligen Punkte-Schemas einen WM-Punkt ergatterte. Zuvor hatte Wolfgang Graf Berghe von Trips diesen Wagen am 19. März beim Formel-2-Gran Premio di Siracusa zum Sieg gefahren. Und der rheinische Adelsmann sicherte sich auch auf der Solitude (nahe Stuttgart) Platz Eins. Dahinter folgte eine Armada von vier Porsche – Trips´ Teamkollege Phil Hill wurde Siebter. In Zandvoort wollte Ferrari mit dem „Kleinen“ erneut Formel-1-Luft schnuppern, aber ein Feuer machte dem Motor bereits vor dem Rennen den Garaus.
Natürlich wurde neben den Renneinsätzen fleißig in Modena getestet, wo neben den Werksfahrern auch Ferrraris Testpilot, der Italiener Martino Severi, zum Einsatz kam. Beim Heim-Grand Prix in Monza wollte Commendatore Enzo Ferrari zunächst auf schiere Power setzen und entsprechend auf den vergleichsweise schmalbrüstigen 1,5-Liter-Wagen verzichten. Als dann aber die britischen Teams den italienischen Grand Prix bestreikten, war mangels Konkurrenz der Freiraum für einen weiteren „Test unter Rennbedingungen“ gegeben. Der Wagen wurde Graf Trips anvertraut, und der machte seinen Job gut. Sein belgischer Stallgefährte Willy Mairesse zog den Miniflitzer im Windschatten aus der Reichweite der Gegner. Das Rennen hätte mit einem Vierfach-Triumph der Scuderia geendet, wenn von Trips keinen unnötigen Boxenstopp zum Check der Reifen eingelegt hätte. So landete der Prototyp des 156 auf Rang Fünf. Es war ein historischer Tag, denn er brachte den letzten Triumph der Frontmotor-Saurier. Am 2. Oktober jenes Jahres fuhr der Reichsgraf den Interimswagen in Modena auf Platz Drei.
Trotz der zufriedenstellend verlaufenen Erprobungsphase begann Carlo Chiti im Winter 1960/61 nochmals mit einem weißen Bogen Zeichenpapier: Der 65-Grad-V6-Motor wurde durch ein neues Aggregat mit einem Zylinderwinkel von 120 Grad ersetzt. Damit senkte er nicht nur den Schwerpunkt ab, denn zudem bot sich zwischen den Zylindern nun ausreichend Platz für Vergaser unterschiedlichster Hersteller oder alternativ eine Einspritzanlage. Als reinrassiger 1,5-Liter konzipiert, konnte bei vielen Bauteilen Metall eingespart werden, was das Gewicht entsprechend reduzierte. Der 65er und der 120er wurden 1961 sowie 1962 in je zwei Varianten mit unterschiedlichem Verhältnis von Bohrung und Hub eingesetzt. Parallel bekam der 156 seine endgültige Form mit der charakteristischen Bugpartie, die ihm schnell den Spitznamen „Sharknose“ - Haifischnase – einbrachte. Vor Beginn des WM-Auftakts 1961, dem Großen Preis von Monaco, gingen sieben F1-Rennen ohne WM-Status über die Bühne. Die Scuderia Ferrari glänzte jeweils durch Abwesenheit. Dann, Mitte Mai, ließen die Italiener die Katze in Monaco aus dem Sack. Theoretisch mussten neutrale Beobachter ihr Geld dort auf „Rot“ setzen, denn die drei Tipo 156 für Phil Hill, Wolfgang Graf Berghe von Trips sowie Richie Ginther verfügten über Triebwerke, die circa 15 Prozent mehr Leistung als die Motoren ihrer Rivalen entwickelten.
Doch trotz des Leistungs-Handicaps fuhr Stirling Moss seinen Lotus-Climax dank überlegener Fahrkunst zum Sieg. Aber sieglos blieb Ferrari an jenem Sonntag nicht. Auf dem Posillipo Circuit gewann Giancarlo Baghetti, der 1961 ein weiteres Mal positiv auf sich aufmerksam machen sollte, am Steuer eines 156 den Grand Prix von Neapel. Im holländischen Zandvoort, auf dem äußerst anspruchsvollen Dünenkurs, konnte Moss das in Monte Carlo gezeigte Kunststück nicht wiederholen. Trips siegte vor seinem Teamkollegen Hill, und es zeichnete sich ab, dass die Ferrari-Piloten den Kampf um den WM-Titel unter sich ausmachen würden. Wer Überlegungen dieser Art zunächst nicht folgen wollte, der wurde spätestens auf dem damals noch 14,1 Kilometer langen Straßen-Circuit von Spa-Francorchamps in den belgischen Ardennen eines Besseren belehrt: Ferrari setzte neben den drei genannten Werksfahrern zusätzlich den Belgier Olivier Gendebien ein, dem Enzo Ferrari einen in gelber Farbe lackierten 156 anvertraute. Die Rivalen bekamen im Kampf gegen dieses Quartett keine Schnitte: In der Reihenfolge Hill, von Trips, Ginther und Gendebien wurden die vier Haifischnasen nach gut zwei Stunden auf den Rängen Eins bis Vier abgewinkt. Auf der ultraschnellen Piste von Reims in der Champagne schienen sich bei glühender Hitze alle bösen Mächte gegen Ferrari vereint zu haben. Statt eine weitere Power-Demo à la Spa zu geben, patzten die Favoriten: Trips schied mit überhitztem Motor aus, nachdem ein Stein den Kühler seines Ferrari zerschlagen hatte. Hill drehte sich auf geschmolzenem Asphalt bei Thillois, würgte den Motor ab und fiel dadurch entscheidend zurück. Ginther übernahm die Führung, kam dann jedoch an die Boxen, weil er einen kapitalen Motorschaden befürchtete. Das Team schickte ihn wieder ins Rennen. Wenig später bewahrheitete sich die Befürchtung des Amerikaners. Aber Ferrari hatte noch ein Ass im Ärmel, den Neapel-Sieger Baghetti, der erstmals um Punkte in der Fahrer-Weltmeisterschaft kämpfen durfte. In einem denkwürdigen Duell setzte sich der Neuling mit einer Zehntelsekunde (genauer wurde damals noch nicht gemessen) gegen den Porsche-Fahrer Dan Gurney durch. Mit einem Dreifach-Sieg – Trips, Hill, Ginther – im völlig verregneten britischen Grand Prix in Aintree wetzte Ferrari die Beinahe-Scharte von Reims bei erstbester Gelegenheit aus. Die Reihenfolge lautete hier Trips vor Phil Hill und Ginther.
Auf der Nordschleife des Nürburgrings, der anspruchvollsten aller Rennstrecken, kam – wie schon in Monte Carlo – der Moss-Faktor zum Tragen. Der Brite zeigte den beiden Ferrari-Fahrern von Trips und Hill, dass Virtuosität im Cockpit fehlende PS wettmachen kann. Moss gewann das Rennen überlegen vor dem Lokalmatador und dessen amerikanischen Stallgefährten. Im Schatten des Duells der beiden roten Titelanwärter klopfte die Zukunft ans Tor des Fahrerlagers. Jack Brabham fuhr mit einem Climax-Achtzylinder – die Antwort der Engländer auf den Ferrari-Motor – im Rücken und holte sich den zweitbesten Startplatz. Im Rennen aber konnte er das Potenzial des neuen Motors nicht vorführen, denn wenige Kilometer nach dem Start rutschte der Australier im Streckenabschnitt Hatzenbach von der Bahn.
Es folgte das Drama von Monza. Am 10. September verunglückte der WM-Führende von Trips, der sich am Vortag seine erste F1-WM-Pole gesichert hatte, wegen einer Unaufmerksamkeit tödlich. Phil Hill siegte und sicherte sich damit den Titel. Beim abschließenden GP der USA trat die geschockte Scuderia nicht an. Natürlich waren die Briten wegen der Ferrari-Überlegenheit „not amused“ und viele meinten, man sei das Opfer einer Intrige geworden. Was die Verfechter dieser Verschwörungstheorie allerdings vergaßen, war, dass sich der italienische CSI-Deliegierte ursprünglich gegen die 1,5-Liter-Formel ausgesprochen hatte ...
Rob Walker, seines Zeichens Teamchef von Stirling Moss, konnte sich nicht vorstellen, dass den britischen Herstellern ein schneller Konter gegen die rote Dominanz gelingen könnte. Er einigte sich mit Enzo Ferrari und bestellte für 1962 eine "Haifischnase", die in Walker-Farben lackiert werden sollte. Noch bevor die Vorbereitungen für die kommende Saison auf Touren kamen, verließen Rennleiter Romolo Tavoni und Ingenieur Carlo Chiti nach einem mysteriösen Streit die Scuderia Ferrari, um das eigene Team namens ATS auf die Beine zu stellen. Angelo Bellei und der junge Mauro Forghieri, der sein Geld eigentlich in den USA als Flugzeug-Ingenieur verdienen wollte, nahmen sich der Modifizierung des Tipo 156 für 1962 an. Im Mittelpunkt standen ein neuer Zylinderkopf für den 120-Grad-Motor, ein überarbeitetes Sechsganggetriebe, eine leicht veränderte Heckpartie sowie kleinere Veränderungen im Bereich der hinteren Radaufhängung.
Rückblickend steht fest: Handling-Schwächen des Autos wurden 1961 dank des überlegenen Motors überdeckt. Auch hier hätten die Verantwortlichen eingreifen müssen, aber Forghieri sagte später zu diesem Thema, für ihn hätte damals der Motor im Focus seines Interesses gestanden. Was das Chassis, das Getriebe und andere Paketbestandteile angeht, seien die Jahre 1962 bis 1965 eine „Lehrzeit“ gewesen. Wie auch immer – gemessen an der Gala des Vorjahres waren die Auftritte im Jahr danach bitter enttäuschend. Schon als Innes Ireland 1962 vor Saisonbeginn anlässlich der International Trophy in Silverstone eine Sharknose in Walker-Farben fahren durfte, kritisierte der Schotte das Fahrverhalten des Ferrari – zumindest auf nasser Piste – als eher bescheiden. Stirling Moss hatte seine Karriere kurz zuvor nach einem schweren Unfall beenden müssen. Das Rennjahr wurde für die Titelverteidiger zur Qual. Weggewischt von den aufgewachten Briten, hingen die Trauben für Ferrari zu hoch. Trostbonbons wurden in Zandvoort, wo Phil Hill Dritter wurde, in Monte Carlo, wo Hill und Lorenzo Bandini neben dem siegreichen Cooper-Piloten Bruce McLaren aufs Podest durften und in Spa geholt, wo Hill einen weiteren dritten Rang erobern konnte. Ansonsten Mittelmaß im Mittelfeld und die absoluten Tiefpunkte: In Frankreich musste die Scuderia passen, weil die italienischen Metaller streikten. In Aintree traten die frustrierten Italiener statt mit den geplanten drei Fahrern lediglich mit Phil Hill an, und der kam nicht über die Runden. Auf dem Nürburgring brachten zahlreiche von Forghieri veranlasste Chassis-Modifikationen nicht den erhofften Durchbruch. Lediglich Ricardo Rodriguez sorgte für einen fahrerischen Lichtblick, als er einen Wagen mit dem Ur-65-Grad-Motor auf den sechsten Platz fuhr. Der Doppelsieg von Lorenzo Bandini und Giancarlo Baghetti, der beim Nicht-WM-GP in Enna-Pergusa herausgefahren wurde, konnte die Enttäuschung auch nicht wettmachen, zumal keines der fünf Ferrari-Asse beim Home-GP in Monza stach. Willy Mairesse wurde immerhin Vierter, auf Rang Fünf folgte sein Teamgefährte Giancarlo Baghetti, aber das wurde den Ansprüchen des Arbeitgebers und der Tifosi natürlich nicht ansatzweise gerecht. Wenige Tage später erhielten die Ferrari-Fahrer Post vom Commendatore. Er teilte ihnen mit, dass die Scuderia infolge von „industriellen Problemen“ auf die Teilnahme an den Grands Prix in den USA sowie in Südafrika verzichtet.
Das Schicksal der bis heute unvergessenen "Haifischnasen" ist nahezu geklärt. Fachleute sind sicher, dass die neun gebauten 156er in einem ewigen Grab unter Betonmassen auf dem Werksgelände in Maranello liegen, beziehungsweise dem Metallschredder zum Opfer fielen. Da soll jemand behaupten, dem kühlen Enzo Ferrari seien Emotionen fremd gewesen ...
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