An den Trainingstagen herrscht sonniges, zum Teil sogar hochsommerliches Wetter an der Rennstrecke in Spa-Francorchamps. Aber schon am Vormittag des Rennsonntags legen sich schwarze Wolkenbänke tief über die Hügelkette der Ardennen.
Kein Grund für die zahlreichen Fans, den belgischen Grand Prix zu verpassen, denn auf der ultraschnellen, 14,1 Kilometer langen Piste verspricht sich jeder Rennbesucher von der neuen 3-Liter-Formel einen besonderen Nervenkitzel. Vor allem deshalb, weil das schwächste 3-Liter-Modell rund 80 PS mehr leistet als der stärkste Vorjahres-Rennwagen der 1,5-Liter-Formel. Nur drei Wochen besteht der am 22. Mai dieses Jahres beim 1000-km-Rennen von Spa aufgestellte Rundenrekord (224,2 km/h) des englischen Ferrari-Piloten Mike Parkes auf einem 330 P3. Nun fährt John Surtees im Training zum Großen Preis von Belgien auf dem V12-Ferrari-3-Liter die Bestzeit mit 3:38 Minuten, das entspricht einem Schnitt von 232,8 km/h. Die erste Startreihe komplettieren Jochen Rindt (Cooper-Maserati) mit 3:41,2 Minuten und Jackie Stewart, der auf dem 2-Liter- nur drei Zehntelsekunden langsamer ist als der Österreicher.
Jack Brabham (Brabham-Repco) und Lorenzo Bandini (Ferrari 2.4 Liter) folgen auf den Plätzen. Der Start ist auf den Spätnachmittag, 15.30 Uhr, festgesetzt worden. Inzwischen nimmt das schlechte Wetter zu. Überall sieht jetzt man fieberhaft arbeitende Mechaniker, nervös in die Meteorologie blickende Rennfahrer, aufgeregte Funktionäre und ungeduldige Zuschauer. Die geladene Atmosphäre erzeugt eine Stimmung, die es Niemandem recht wohl in seiner Haut sein lässt, denn angesichts der schnellen, bei Regen bekanntermaßen äußerst rutschigen – und somit extrem gefährlichen – Hochgeschwindigkeitsstrecke hat jeder so seine geheimen Befürchtungen. Man denkt an die großen, teilweise im Fahrverhalten noch sehr unausgereiften Wagen, an die schweren Motoren hinter den Piloten und an die Reifen. Man glaubt, es ist wohl besser, wenn einer kommt und den Mut hat, das Rennen abzusagen. Andrerseits – es würde ja beileibe nicht das erste Regenrennen in der Geschichte des Grand-Prix-Sports sein. Vielleicht ängstigt der bevorstehende Regen die Leute viel weniger als die unheimliche Färbung des Himmels ...
Das Rennen wird gestartet. Bis auf Jim Clark (Lotus-Climax 2 Liter), der vergisst, den ersten Gang einzulegen, geht der Pulk ohne Zwischenfälle auf die 394,8 Kilometer lange Reise. Die Strecke ist trocken, und schon hinter „Eau Rouge“ können die Fahrzeuge ihre Leistung gut entfalten. Als Letzter ist Phil Hill zu sehen, der – außer Wertung fahrend – eine auf einem McLaren montierte Kamera im Auftrag der amerikanischen Filmproduktionsgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) für den Film „Grand Prix“ von Regisseur John Frankenheimer an Bord hat. Hill werden sich in den folgenden Minuten einzigartige Szenen bieten. Kaum ist das Feld hinter „Eau Rouge“ den Blicken der Zuschauer entschwunden, da tönt die Stimme des Streckensprechers: „Starker Regen in der Kurve von Burnenville.“ Der bei Start und Ziel erwartete Gewitterregen hat wenige Kilometer weiter, über Malmedy und Stavelot, bereits mit der Macht eines Platzregens eingesetzt und zieht mit scharf abgegrenzter Front der Strecke und den Fahrern entgegen.
Die plötzlich vor ihnen auftauchende Nässe auf der Bahn überrascht die Piloten, die alle einen allmählichen Übergang zu Regenverhältnissen erwartet hatten, so vollkommen, dass nun einige nicht mehr die Zeit finden, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Andere werden von dem jetzt entstehenden Chaos einfach mitgerissen. Es kommt zu jener katastrophalen Startrunde von Spa, die das Feld um 50 Prozent reduziert – für sieben der bis dahin noch im Wettbewerb liegenden 14 Rennwagen endet der WM-Lauf am Rande der Piste. Obwohl das Unglück auf einem sehr schnellen Streckenabschnitt seinen Lauf nimmt, geht diese Unfallserie für alle Beteiligten recht glimpflich ab.
Es gibt nur einen einzigen Verletzten, der die Hilfe des Roten Kreuzes und eines Arztes beanspruchen muss: Stewart, fest in seinem kleinen BRM eingeklemmt, hat sich beim Aufprall einen Schlüsselbeinbruch zugezogen. Die Ursache für das Glück im Unglück der Fahrer ist wohl darin zu sehen, dass es keine „Unfallstelle“ gibt, sondern ein langes Streckenstück, auf dem die Wagen größtenteils nur indirekt von den anderen beeinflusst aus der Kontrolle ihrer Fahrer geraten: Als die Spitzenreiter, allen voran Surtees auf dem roten Ferrari, in die lange Kurve von Burnenville gehen, die bei trockener Bahn zwischen 220 bis 230 km/h verträgt, ist die Straßenoberfläche noch trocken. Die heraneilende Regenwand hat erst den Kurvenauslauf erreicht und die Wagen geraten zwar schon etwas ins Schwimmen, kommen jedoch noch halbwegs unbehelligt durch. Mike Spence (Lotus-BRM) fährt als Erster mitten in der Kurve auf Nässe, dreht sich und schießt zur Innenseite der Bahn, wo der Graben seiner Fahrt ein Ende setzt.
Joakim Bonnier (Cooper-Maserati) vollführt als nächster seinen Tanz, hinter ihm dreht sich Jo Siffert, ebenfalls auf einem Cooper-Maserati. Denis Hulme versucht, seinen Brabham-Climax abzubremsen, rammt im Drift den Wagen Sifferts. Der Aufprall ist zwar sanft, genügt aber, an jedem Wagen eine Radaufhängung außer Funktion zu setzen. Damit scheint die Geschichte an dieser Stelle ausgestanden, doch das Pech fährt mit den Fahrern weiter – oder auch der Leichtsinn.
Denn nun kann man keinen Überraschungseffekt mehr geltend machen. Die anschließende Gerade steht zum Teil schon zentimeterdick unter Wasser, als die Spitzengruppe mit nur geringfügig herabgesetzter Geschwindigkeit auf ihr entlangfegt. Auch hier herrscht durch die Wasserfontänen von Surtees in seinem Ferrari, der unbehindert vorneweg fahren kann, miserable Sicht. Stewart, der sich aber eine gute Chance verspricht aufzuschließen, überholt mehr oder weniger im Blindflug die schon auf Abwarten eingestellten Graham Hill (BRM), Bandini und Brabham. Doch es ist zu spät für ihn geworden, das „S“ im Bereich der „Masta“-Geraden richtig anzubremsen. Stewart erwischt einen Strohballen, dreht sich mehrmals und setzt seinen BRM mit unverminderter Fahrt in den Graben.
Von allem weiß man bei Start und Ziel noch nicht viel, als Surtees aus der ersten Runde – gefolgt von Brabham, Bandini, Richie Richie (Cooper-Maserati), Rindt, Guy Ligier (Cooper-Maserati) und Dan Gurney (Eagle-Climax 2.7 Liter) – mit elf Sekunden Vorsprung vor dem Zweiten erscheint. Dann kommt nichts mehr! Innerhalb der nächsten Runde, als der nichts Böses ahnende Surtees an den gelben Flaggen und den herumliegenden Wracks vorbei fährt und dabei sicherlich recht merkwürdige Empfindungen haben muss, gelingt es Bandini, ihm mit dem kleinen Ferrari für kurze Zeit die Führung zu nehmen. Doch es ist im weiteren Verlauf des Rennens nicht Bandini, der aus diesem missratenen WM-Lauf noch ein Rennen macht. Rindt, der schon in Monaco einen sehr positiven Eindruck im Cockpit des dicken Coopers hinterlassen hat, dirigiert mit hartem Griff das widerspenstige Gefährt über die nasse Piste und schiebt sich näher und näher an Surtees heran. Er fängt ihn in der dritten Runde ab, deren Ende Rindt mit zehn Sekunden Vorsprung vor Surtees, Bandini, Brabham, Ginther, Ligier und Gurney sieht – eine Reihenfolge, die nun mehrere Runden lang bestehen bleiben wird.
In dieser Zeit, in der die Wagen Wasserwände hinter sich herziehen, hält jeder Fahrer, aus Erfahrung klug geworden, mehr als eine gute Sichtweite Abstand. Surtees, immer schön auf Distanz hinter Rindt liegend, fährt vollkommen auf Sicherheit. Es ist vorauszusehen, dass er kurz vor Schluss sein schnelleres und besser liegendes Auto im richtigen Moment nach vorne ziehen wird. Man beginnt bereits zu spekulieren, welchen Streckenabschnitt sich der Engländer dafür ausgesucht hat, als sich der Ausgang des Rennens von allein ergibt: Das Sperrdifferential des Cooper geht fest und Rindt verliert, ab der 23. Runde, schonend fahrend, etwa zehn Sekunden pro Runde an Surtees, ohne dass dieser das Tempo erhöhen muss. Bereits die 24. Runde sieht Surtees vorn, im Ziel trennen ihn 42 Sekunden von Rindt. Kurz vor Rennende wird es noch einmal dramatisch. In „La Source“ geht Surtees der Motor aus. Ein Glück, dass er gleich wieder anspringt. Die Zuschauer hinter der Feldsteinmauer des berühmten Cafés werden unruhig, sie hoffen noch einmal für Rindt. Nur fünf Wagen kommen mit Wertung ins Ziel, davon vier Dreiliter. Trotzdem führt es nicht zu der erwarteten Demonstration der Überlegenheit der neuen Formel – aber dafür kann sie nichts. Hinter Surtees und Rindt belegt Bandini Rang drei vor Brabham und Ginther. Ligier und Gurney beenden zwar das Rennen, da sie aber weniger als 90 Prozent der Gesamtdistanz bewältigen, werden sie nicht mehr gewertet.