Mehr als nur eine Tankstelle – ein Himmel auf Erden
Mindestens einmal im Jahr packen Jörg-Thomas Födisch und seine Frau Juliane Klingele ihre Koffer und machen sich auf zu einer Motorsport-historischen Reise. Traditionell besuchen sie seit mehr als 15 Jahren Beaulieu, südwestlich von Southampton (England). Seit den 70er Jahren finden dort alljährlich im Mai und im September Autojumbles (Autoteilemärkte) statt - ein Paradies für jeden, der sich für Automobilia-Accessoires interessiert. Es geht aber auch nach Goodwood, einem kleinen Ort in Hampshire, ebenfalls in England. Hier lädt Charles Gordon-Lennox, Earl of March and Kinrara (besser bekannt als „Earl of Speed“) zum „Goodwood Revival“ ein – einem Stelldichein der Rennwagen und Motorräder aus längst vergangenen Zeiten. Oft besucht das Paar aus Horrem genauso gern historischen Rennstrecken in Europa, die Nostalgie und Souvenirs en masse zu bieten haben: Monza in Italien, den Circuit de Charade im französischen Clermont Ferrand, den alten Straßenkurs von Spa-Francorchamps in Belgien oder Brands Hatch nahe London, wo bereits 1926 erste Rennen stattfanden.
Natürlich stehen der Oldtimer Grand Prix am Nürburgring und die "Classic Days" auf Schloss Dyck ebenfalls im Historischen Motorsport-Kalender der beiden Rennsportfans. Ein Ziel auf ihrer Liste hat aber immer wieder Priorität – und dies nicht nur, weil es quasi „vor der Haustüre“ liegt. Es ist der Nürburgring in der Eifel mit seinem kleinen „Motorsport-Paradies“ (wie Födisch es nennt), der Tankstelle „Döttinger Höhe“ von Hans-Joachim Retterath und seiner Frau Annette. Die „Döttinger Höhe“ – „that’s more than a Gas-Station, that’s heaven on earth“, schwärmte im Internet einmal ein britischer Tourist über das Mekka der Rennsportfans am "Ring" - mehr als nur eine Tankstelle, vielmehr ein Himmel auf Erden!“ Jörg-Thomas Födisch ist nicht nur ein begeisterter Motorsportfan. Er ist beseelt von der Historie dieses Sports und hat deshalb auch in den 1980er-Jahren als Journalist damit begonnen, Rennberichte zu schreiben, bei Rennveranstaltungen zu fotografieren und erste Buchprojekte anzugehen. Heute verdanken wir dem Autor und Co-Autor etliche Publikationen über „Die Grüne Hölle Nürburgring“, den deutschen Rennfahrer Wolfgang Graf Berghe von Trips, Jim Clark, die Formel 1, Porsche sowie die Sportwagen- und Rallye-Weltmeisterschaften.
Julia Klingele teilte all die Jahre die schriftstellerische Leidenschaft ihres Partners und unterstützte seine oft nervenaufreibenden Motorsport-Vorhaben nach Kräften. Der regelmäßige Besuch am Stamm-Tisch in der „Döttinger Höhe“ ist für sie aber kein Pflichtprogramm, das Paar freut sich immer wieder auf die gemeinsamen Treffen mit Hans-Joachim Retterath, seiner Frau und ihrem Team. Födisch ist stolz, wenn er Retti - so wird Retterath von allen genannt - „einen seiner besten Rennsport-Freunde“ nennt. So wie Hans-Joachim Retterath, so wurde auch Jörg-Thomas Födisch bereits in frühen Jugendjahren mit dem sprachlich häufig bemühten „Motorsport-Bazillus“ infiziert. Der im Jahr 1947 im thüringischen Pößneck geborene Födisch, dessen Familie später die DDR verließ und über Andernach am Rhein schließlich in Swisttal-Heimerzheim ansässig wurde, erlebte mit zehn Jahren seinen ersten Großen Preis auf dem Nürburgring. Es war jener Weltmeisterschaftslauf der Formel 1 am 4. August 1957, in dem der Argentinier Juan Manuel Fangio auf Maserati vor den beiden britischen Ferrari-Piloten Mike Hawthorn und Peter Collins gewann. Eines der größten Formel-1-Rennen in der Motorsportgeschichte überhaupt.
Die Nähe seines neuen Heimatortes Swisttal-Heimerzheim zur Eifel-Rennstrecke machte es möglich, dass unser heutiger Fachbuchautor bereits ab Anfang der 1960er Jahre in der „Grünen Hölle“ etliche Rennen der Königsklasse und zahlreiche Sportwagen-WM-Läufe hautnah miterleben durfte. Alleine dadurch wurde der Grundstock für die spätere Freundschaft mit Hans-Joachim Retterath gelegt, der auf dem Anwesen seiner Eltern Anna und Silvester in Hör- und Sichtweite der legendären Rennpiste ebenfalls mit „Benzin im Blut“ – man verzeihe uns auch dieses Klischee (aber weil es so schön ist …) – aufwuchs. Die Tankstelle „Döttinger Höhe“ am Nürburgring ist heute ein Teil „meines Rennsportlebens“, gesteht Jörg-Thomas Födisch. „Nirgendwo gibt es mehr Gleichgesinnte rund um den Motorsport, nirgendwo wird so viel gefachsimpelt, nirgendwo werden so viele Rennsport-Accessoires angeboten“, nirgendwo fühl' ich mich wohler", erklärt er. Im Schwärmen entgeht ihm, dass seine bessere Hälfte Julia dabei leicht die Augen verdreht ...
Lassen wir ihn schwärmen, über das Motorsport-Paradies „Döttinger Höhe“, das den Blick erlaubt auf Vergangenes, Aktuelles und manchmal auch Zukünftiges. Seit 1962 besucht Födisch den berühmten Komplex aus Tankstelle, Hotelbetrieb plus Restaurant sowie Fanshop mit den Sonderbereichen Modellautos und Motorsportliteratur. Oft lud er Bekannte oder Arbeitskollegen ein, mitzukommen. Seit dem Jahr 2004 gehört „Rettis Döttinger Höhe“ zum festen Freizeit-Programm des Journalisten. Meistens am Freitag nimmt er im Gasthof Platz am „Rentner-Tisch“, freut sich auf das gute Essen „von Meisterkoch Retterath“ und auf die Fachgespräche mit anderen „Ring-Insidern“. Lebensgefährtin Julia Klingele, die immer wieder gerne zu dem festen Besuchstermin in der Eifel mitfährt, kennt das Prozedere „Döttinger Höhe“ genau und kann stets auf eine ihrer Grundtugenden, die Geduld, bauen. Denn nach dem „Rentner-Tisch“ folgt noch der Gang durch den Verkaufsraum der Retteraths, die Welt der Boliden en miniature und die Welt der Fachzeitschriften, Sachbücher, Lebenserinnerungen und Bildbände.
Modellsammler Födisch beschreibt den Mehrwert eines Besuches an der B 258: „Hans-Joachim Retterath ist schon öfters als ,Deutschlands bester Modellhändler des Jahres‘ ausgezeichnet worden. Bei ihm bin ich mit meinem Hobby in allerbesten Händen. In seinem Shop gibt es eine riesengroße Auswahl, alle erdenklichen Automodell-Größen, Top-Qualität, 1a-Fachberatung.“ Und: „Wahrscheinlich hat Retti in seinem Ladengeschäft auch mit Abstand die meisten Exemplare aller von mir und meinen Co-Autoren verfassten Rennsportbücher – mehr als 30 verschiedene Titel – verkauft.“ Jörg-Thomas und Julia fahren heute auch im Winter regelmäßig zur „Döttinger Höhe“ – selbst wenn es in der Hocheifel schneit und die gut einhundert Kilometer von Horrem bis zum „Rentner-Tisch“ nicht stressfrei sind. Unterwegs erzählt er seiner Beifahrerin (sie kennt die Geschichten natürlich schon) oft von den guten alten Zeiten. Etwa vom 3. August 1962, als Vater Födisch seinen Sohn im Lkw vom Typ MAN zum Training für den Großen Preis von Deutschland fuhr und bei der „Döttinger Höhe“ parkte.
Oder vom 4. August 1963, als wieder einmal ein Großer Preis am Nürburgring lockte und eine Fahrradtour zur „Döttinger Höhe“ führte. Dort wurden„gleich nach der Ankunft Getränke und Süßigkeiten gekauft“. Wer den „Ring“ liebt, muss offenbar auch leiden können. So erging es Jörg-Thomas Födisch jedenfalls sechs Tage im Mai 1965, wo ihn das ADAC-1000-Kilometer-Rennen in die Eifel zog. „Ich war mit dem Fahrrad von Heimerzheim zum Nürburgring gekommen und hatte mich dann in der Jugendherberge in Adenau einquartiert; bis zur Rennstrecke ging es dann mit dem Rad immer wieder höllisch bergauf und bergab.“ Beim Großen Preis am 4. August 1968, als berühmtes Nebel- und Regenrennen in die Motorsporthistorie eingegangen, suchte und fand Födisch vollkommen durchnässt und verfroren Unterschlupf in der Tankstelle „Döttinger Höhe“. Sieben Jahre später, am 3. August 1975, sollte es in der „Döttinger Höhe“ aufgrund der brütenden Sommerhitze, die über der Eifel lag, zu einem bedrohlichen Engpass kommen. Födisch: „Am späten Sonntagvormittag gab es bei Retti keine alkoholfreien Getränke und auch kein Bier mehr – auch den Hitze-GP am Ring werde ich nicht vergessen.“
Im Frühjahr 1978 wurde aus der Freude, am Nürburgring an der Tankstelle „Döttinger Höhe“ endlich angekommen zu sein, ein Erlebnis der besonderen Art. Vielleicht erklärt sich nun, warum der Betrieb am gleichnamigen Streckenabschnitt des Eifelrundkurses heute für Jörg-Thomas Födisch gleichsam „der Mittelpunkt seines Rennsportlebens“ ist. Lassen wir ihn erzählen: „Ich wollte damals mein neues Rennrad einweihen und machte mich entschlossen auf den Weg von Swisttal-Heimerzheim zum Nürburgring. Die Rennmaschine würde mich ja wie von selbst durch die Eifel tragen. Glaubte ich jedenfalls und überschätzte mich gnadenlos. Als ich nach vier mühseligen Stunden schließlich in Adenau ankam, war ich fix und fertig. Von Adenau schob ich mein Sportrad nur noch mit hängender Zunge bergauf. An der ,Döttinger Höhe‘ war ich dann mit meinen Kräften völlig am Ende, den Start- und Zielbereich am Nürburgring habe ich an diesem Tag der Qualen gar nicht mehr erreicht. Bei Retti legte ich aber eine zweistündige Ruhepause ein. Danach rollte ich langsam wieder zurück nach Heimerzheim, wo ich gegen 20 Uhr ankam. Ich war zwar ziemlich groggy, erinnerte mich aber in den Jahren danach immer wieder an diesen Boxenstopp in der Kultstätte ,Döttinger Höhe‘ - und an das preiswerte Gericht, einige kühle Getränke und jede Menge Gespräche (für die man eben „Benzin im Blut“ haben muss). Retti's Döttinger Höhe: mehr als eine Tankstelle – ein Himmel auf Erden!