Der total verregnete Formel-1-Lauf am 23. Juni 1968 im niederländischen Zandvoort war nur ein Vorspiel zum Grand Prix von Deutschland und Europa am 4. August auf dem Nürburgring. Dieses Rennen setzt in puncto katastrophale Wetterbedingungen neue Maßstäbe. Heute spricht man immer noch von einem der denkwürdigsten Läufe der WM-Geschichte.
Nur der Nürburgring mit seinen bewaldeten Passagen und zahlreichen Berg- und Talabschnitten konnte an diesem Augustsonntag eine würdige Kulisse für den achten Weltmeisterschaftslauf des Jahres 1968 sein. Aber bereits während des Trainings hieß es am „Ring“: Land unter! Regen und Nebel machen den Piloten das Leben schwer. Jackie Stewart warnte damals vor dem Start: „Die höher gelegenen Streckenteile sind in dichte Wolken gehüllt. Nur ein paar Meter Sicht – und das auf nasser Piste. In den Tälern ist es halbwegs erträglich, dort haben wir nur mit dem Regen zu kämpfen.“
Mit einer Zeit von 9:04,0 Minuten konnte der Belgier Jacky Ickx seinen Ferrari auf den besten Startplatz stellen. Das war am Freitag – das Wetter hatte da noch einigermaßen mitgespielt. Seine Zeit aber spricht Bände: Bereits 1961 waren die 1,5-Liter-Formel-1-Rennwagen schneller gewesen ...
Der Start sollte an jenem denkwürdigen 4. August um 14 Uhr erfolgen. Doch weder die 20 Fahrer noch die Rennleitung haben zunächst Lust, das Rennen zu beginnen. Schwerer Regen geht nieder und im Bereich der höher gelegenen Streckenabschnitte herrscht dichter Nebel. Trotz dieser ungünstigen Umstände sind rund 150.000 Zuschauer an die Nordschleife gekommen. Diesen großartigen Fans wird zunächst einmal eine Solorunde von Joakim Bonnier und Graham Hill geboten – im Pkw des Rennleiters. Bonnier, Wahlschweizer schwedischer Herkunft, und Hill, Weltmeister des Jahres 1962, wollen als Vertreter der Grand Prix Drivers' Association (GPDA) alle Streckenabschnitte genau in Augenschein nehmen, um das Sicherheitsrisiko abzuwägen. Niemand beneidet Bonnier und Hill um diese Aufgabe.
Graham Hill, später rückblickend: „Wir sagten anschließend den Funktionären, dass ein Rennen möglich ist. Jo und ich wussten, dass es nicht besonders schön würde, aber bei rund 200.000 Zuschauern gab es eigentlich keine andere Wahl. Wir glaubten einfach, dass wir es auf uns nehmen müssten.“
Nach kurzer Diskussion entschließt man sich, den Start freizugeben. Offenbar durch das lange Warten genervt – es ist bereits kurz vor 15 Uhr – versagen die mit der Startprozedur betrauten Funktionäre völlig. Dabei leisten sie sich den gröbsten Schnitzer, als sie zwischen dem Signal „Motoren anlassen“ und der Startfreigabe zu viel Zeit verstreichen lassen: Einige der auf kühlenden Fahrtwind angewiesenen Hochleistungsmotoren kochen bereits. Der Schweizer Jo Siffert und Ex-Weltmeister John Surtees sind die prominentesten Piloten, die den Grand Prix mit dieser heißen Hypothek aufnehmen müssen.
Mitte der ersten Runde übernimmt Stewart die Spitze. Niemand kann mithalten. Die befürchteten Unfälle bleiben aus. Zwar rutschen Vic Elford (Cooper T86), Jean-Pierre Beltoise (Matra) und Chris Amon (Ferrari) von der Strecke, die Fahrer bleiben aber unverletzt. Stewart fährt eine beste Rundenzeit von 9:36 Minuten. Was diese Zeit wert ist, die bereits zwölf Jahre vorher erreicht wurde, wird deutlich, wenn man den Vorsprung des späteren Siegers Jackie Stewart im Ziel betrachtet: Vier Minuten und drei Sekunden vor dem Zweitplatzierten, dem Lotus-Fahrer Graham Hill.
Hill beschreibt nach dem Rennen die extremen Bedingungen: „Ohne viel zu sehen, segelte ich über eine Bodenwelle und drehte mich im folgenden abschüssigen Streckenabschnitt – Wasser lief über die Piste. In der vorherigen Runde war davon nichts zu sehen.“ Während des Drehers stirbt der Motor ab. Der Engländer muss aussteigen und seinen Wagen in Fahrtrichtung rangieren. Der Lotus-Pilot: „Es waren furchtbare Augenblicke. Die ganze Zeit fürchtete ich, von irgendjemand über den Haufen gefahren zu werden.“
„Supermann“ Stewart, der an diesem Tag auf dem Nürburgring seine Gegner und das Wetter schlägt, fährt einen Matra MS 10 mit Ford-Cosworth-Motor. Der Schotte gibt bei diesem Rennen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von nur 142,7 Stundenkilometern eine eindrucksvolle Demonstration seines fahrerischen Könnens. Einer der Beweise dafür, dass die absolute Geschwindigkeit bei einem Autorennen auch in der Formel 1, nur von nebensächlicher Bedeutung ist – es zählt einzig und allein die relative Geschwindigkeit.
Graham Hill wird Zweiter vor Jochen Rindt (Brabham), Ickx, Jack Brabham (Brabham) und Pedro Rodriguez (BRM.).
Stewart nimmt zwar neben Ruhm und Ehre auch neun Weltmeisterschaftspunkte mit, als er die nassen Eifelwälder verlässt, doch zum Titelgewinn reicht es – trotz eines weiteren Sieges im amerikanischen Watkins Glen – nicht. Den WM-Titel sichert sich Graham Hill, der das Championat bereits 1962 gewonnen hatte.
Jackie Stewart hat 27 Grands-Prix-Siege errungen. Von all seinen Erfolgen sticht einer heraus: die größte Nebel- und Regenschlacht in der Formel-1-Geschichte, der Große Preis von Deutschland am 4. August 1968. Er gewann dieses Rennen in der „Grünen Hölle“ mit über vier Minuten Vorsprung auf Graham Hill.
Ein echtes Himmelfahrtskommando
Michael Schmidt, einer der bekanntesten Formel-1-Reporter, hat einmal mit dem dreifachen Automobilweltmeister Jackie Stewart (1969, 1971 und 1973) über diesen WM-Lauf gesprochen. Schmidt stellte mir dankenswerterweise seine Aufzeichnungen für diese Homepage zur Verfügung.
Jackie Stewart: „Für mich steht der Grand Prix am Nürburgring 1968 an erster Stelle meiner persönlichen Hitliste. Heute würde man so ein Rennen überhaupt nicht starten. Die Bedingungen waren lächerlich, geradezu grotesk. Regen, Nebel, praktisch null Sicht, und das bei 290 km/h auf der langen Geraden. Trotzdem wurde nicht einmal darüber diskutiert, den Start zu verschieben. Dabei gab es keine Fernseh- oder Satellitenzwänge. Es gab auch keinen Charlie Whiting, der sich für die Fahrer eingesetzt hätte. Der Veranstalter am Nürburgring hätte uns beim leisesten Protest gesagt: ,Meine Herren, wenn Sie nicht fahren wollen, bleiben Sie zu Hause.‘ Wir bekamen auf den langen Strecken wie Spa oder dem Nürburgring noch nicht mal eine Einführungsrunde, um uns mit den Verhältnissen vertraut zu machen. Die erste Runde war eine Fahrt ins Ungewisse. Es war so ein Tag, wo du, aus welchen Gründen auch immer, über dich hinauswächst. Mit vier Minuten Vorsprung zu gewinnen, war auch in der damaligen Zeit ungewöhnlich. Für mich ging es nur darum, keinen Fehler zu machen. Ein paar wurden es dann doch. Mit ihren knapp 23 Kilometer Länge und 187 Kurven war die Nordschleife für dieses Wetter die ungeeignetste Strecke, die man sich vorstellen konnte. Es war sehr schwer, sich die kritischen Punkte zu merken, weil sich in neun Minuten von einer Runde zur nächsten das Bild komplett ändern konnte.“
Wie hat Stewart seine Ideallinie an diesem Sonntag in der Eifel gefunden? Der Schotte: „Ich versuchte, mir die großen Pfützen und Bäche, die über die Strecke liefen, zu merken. Aber mit jeder Runde kamen neue dazu. Der größte Bach lief am ,Wippermann‘ über die Straße. Je länger es regnete, umso mehr Schlamm wurde auf die Strecke geschwemmt. Ich hatte einen Startplatz in der dritten Reihe, weil ich im Training keine trockene Runde fand. In der ersten Sitzung hielt mich ein Problem mit der Elektrik an den Boxen fest. Dann begann es schon zu regnen. Beim Start habe ich mir einen Trick einfallen lassen. Damals waren Zielgerade und Boxen noch nicht durch eine Leitplanke getrennt. Der Boxenvorplatz bestand aus Betonplatten, die besseren Grip boten als der Asphalt. Ich bin beim Beschleunigen da drauf gefahren und habe gleich mal fünf Autos überholt. In der ,Fuchsröhre‘ bin ich an Chris Amon vorbei und kurze Zeit später an Graham Hill. Am Ende der ersten Runde hatte ich schon 30 Sekunden Vorsprung. Ab da bin ich ein einsames Rennen gefahren. Die Box hat mich immer gut informiert. Sie haben mir am Nürburgring die Boxentafeln nicht auf der Zielgeraden gezeigt, sondern am Ende der Gegengeraden. Die Nordschleife war bereits 1968 an der Grenze für Formel-1-Autos. Wir sind 13 Mal pro Runde gesprungen. Manche Sprünge wurden im fünften Gang genommen. Formel-1-Autos sind nicht zum Springen gebaut. Wegen der hecklastigen Gewichtsverteilung war die Landung immer ein haariges Manöver. Du bist selten auf allen vier Rädern gelandet.“
Was ist ihm noch vom Eifelkurs in Erinnerung geblieben? Jackie Stewart: „Wer damals ernsthaft behauptet hat, dass er den Nürburgring liebe, der war entweder nicht schnell genug oder dumm. Ich habe mich auf dem Ring sehr rasch zurechtgefunden, was vielleicht daran liegt, dass ich Legastheniker bin. Ich habe Mühe mit Lesen und Schreiben und kann mir nicht mal den Text unserer Nationalhymne merken. Aber bis heute kenne ich noch jeden Schalt- und jeden Bremspunkt. Statt Worten haben sich bei mir Erfahrungswerte ins Gedächtnis gebrannt. Das half mir auch bei dem Rennen 1968. Ich hatte für die Widrigkeiten auf der Strecke ein fotografisches Gedächtnis. Der Regen half mir. Nach einem Formel-2-Unfall in Jarama ein paar Monate vorher fuhr ich am Nürburgring mit einer Schiene am rechten Arm. Mit höheren Fliehkräften auf trockener Piste hätte ich konditionell Probleme bekommen und hätte nicht gewonnen.“
Zum Schluss spricht Stewart noch über die Gefahren des Rennsports vor allem in den 1960er-Jahren und über Initiativen aus dem Lager der Fahrer, Dinge zu verbessern. Er berichtet: „Obwohl wir am Ende doch immer wieder gestartet sind, begann in dieser Zeit ein leises Umdenken. 1968 sind einfach zu viele Kollegen gestorben. Zwei Jahre später haben wir den Nürburgring gegen immensen Druck von außen boykottiert. Zum ersten Mal hatten sich die Fahrer auf die Hinterbeine gestellt. Wir hatten im Juni gerade die Begräbnisse von Bruce McLaren und Piers Courage hinter uns, als wir uns alle in einem Hotel in England getroffen haben. Jochen Rindt war zum Nürburgring gefahren, um die Strecke zu inspizieren. Der Veranstalter hat eine Mängelliste gar nicht ernst genommen. Er wollte nichts ändern und nahm den Standpunkt ein: ,Wir sind der Nürburgring. Wenn es Ihnen nicht passt, fahren andere.‘ Wären die Verantwortlichen nicht so borniert gewesen und hätten einen Teil der geforderten Maßnahmen erfüllt, wären wir gefahren. Mit seiner Totalverweigerung hat er uns erst die Chance gegeben, ein Zeichen zu setzen, das überfällig war. Die Abstimmung unter uns Fahrern stand auf der Kippe. Die einen trauten sich nicht, gegen den Nürburgring vorzugehen, die anderen wollten sich der Stimme enthalten. Da ist Jack Brabham, unser ältester Fahrer, aufgestanden und hat gesagt: ‚Wenn wir Jackie jetzt im Stich lassen, fahren wir ewig auf unsicheren Rennstrecken.‘ Für mich war es eine wilde Zeit. Es schaudert mich heute noch, wenn ich an den Zustand der alten Nordschleife denke. Der Grand Prix 1968 am Nürburgring war ein echtes Himmelfahrtskommando.“