Bei besten Wetterverhältnissen fährt US-Pilot Dan Gurney mit dem Achtzylinder-Porsche im Freitagstraining 8:47,2 Minuten. Auf Platz zwei kommt der Brite Graham Hill (BRM.), der drei Sekunden über der späteren Pole-Position-Zeit von Gurney bleibt. Rang drei erreicht der Schotte Jim Clark (Lotus) mit 8:51,2 Minuten. Die erste Startreihe komplettiert der britische Fahrer John Surtees (Lola) in 8:57,5 Minuten.
Der Rennsonntag aber beginnt in der Eifel mit Wolkenbruch, Nebel – und Erdrutsch an mehreren Stellen des Nürburgrings. Dennoch hat die Trainingsbestzeit des Amerikaners Gurney auf dem Werksporsche 804 einen gewaltigen Anreiz auf das deutsche Publikum ausgeübt. Die Zuschauer strömen trotz des miserablen Wetters zum „Ring“. Mehr als 200.000 Besucher sollen es gewesen sein, die kurz vor der angesetzten Startzeit um 14 Uhr die 22,8 Kilometer lange Nordschleife säumen. Der Start muss jedoch um fast eine Stunde verschoben werden. Als dann endlich der Zeitpunkt zur Startaufstellung kommt, hat sich der Himmel über der Eifel verdunkelt, plötzlich regnet es in Strömen. Der Wolkenbruch schwemmt an zwei Stellen Erde von frisch aufgeworfenen Dämmen direkt auf die Strecke.
Unter Zeltplanen, Decken und Regenschirmen notdürftig geschützt, halten Tausende aus, bis der Regen aufhört und die 26 Wagen ins Rennen geschickt werden. 25 Fahrer kommen gut weg, nur Clark bleibt stehen – der Motor seines Lotus ist abgestorben. Nach 10:42,5 Minuten kommt das Feld aus der Startrunde zurück: mit Gurney in Führung, vor Graham Hill, Phil Hill (Ferrari), Surtees (Lola), Joakim Bonnier (Porsche), Bruce McLaren (Cooper), Ricardo Rodriguez (Ferrari), Jack Brabham (Brabham) und den restlichen Fahrern. In der zweiten Runde greift Graham Hill Gurney an, und noch vor der Hatzenbach überholt er ihn. Gurney kontert, fährt im zweiten Durchlauf 10:22,5 Minuten und geht erneut in Führung. Eine Runde später steigert sich Graham Hill auf 10:12,2 Minuten – dicht dahinter Gurney und Surtees. Clark liegt bereits auf dem achten Platz. Nach dem vierten Durchlauf passiert Surtees den Porsche mit Gurney. Der US-Pilot ist etwas langsamer geworden, da er im Vorderteil seines Wagens ein Geräusch bemerkt hat. Wie man später herausfindet, hat sich die Befestigung der Batterie gelöst, die in den Kurven hin und her rutscht und dadurch das Geräusch verursacht.
Gurney bleibt trotz seines Handicaps auf dem dritten Platz, Graham Hill bestimmt das Rennen weiterhin vor Surtees. Die fünfte Runde beendet der bravourös fahrende Clark bereits als Fünfter hinter McLaren. In der achten Runde geht Clark an McLaren vorbei und behauptet von nun an den vierten Rang – eine großartige Leistung, denn inzwischen hat es auf den nördlichen Streckenabschnitten wieder angefangen zu regnen.
In der zehnten Runde führt Graham Hill mit nur 1,6 Sekunden vor seinem Landsmann Surtees, der wiederum 1,1 Sekunden vor Gurney liegt. Clark folgt der Spitzengruppe mit rund elf Sekunden Rückstand. Phil Hill hat mit seinem schlecht liegenden Ferrari alle Hände voll zu tun, um auf der nassen Strecke zurechtzukommen – die Hinterradaufhängung ist nicht mehr in Ordnung. Am Ende der zehnten Rund gibt der Ferrari-Pilot auf. Den letzten Ausfall gibt es in Runde elf, als Jack Lewis (Cooper) ebenfalls mit einem Schaden an der Hinterachse ausfällt. Ab Runde zwölf fällt Clark gegenüber der Spitzengruppe etwas ab, die unverändert von Graham Hill vor Surtees und Gurney angeführt wird.
Die Zuschauer werden in der letzten Phase des Rennens noch einmal in Aufregung versetzt, als der Niederländer Carel Graf Godin de Beaufort mit seinem Vierzylinder-Porsche neben dem Ferrari von Gian Carlo Baghetti die Start- und Ziellinie überquert und keinen Meter preisgibt. Beaufort hat sich aber zu viel zugemutet und zu spät vor der Südkehre abgebremst. Er fliegt über den Streckenrand hinaus in das Innenfeld. Trotz dieses „Ausflugs“ in die nassen Wiesen findet er seinen Weg wieder zurück auf die Strecke.
Da der Motor des Lotus 25 von Clark gegen Schluss immer unsauberer läuft, bleibt der erwartete Angriff auf Gurney aus. Mit zwei Sekunden Vorsprung vor Surtees und einem Abstand von vier Sekunden auf Gurney geht Graham Hill als Sieger des XXIV. Grand Prix von Deutschland durchs Ziel. Clark wird Vierter, McLaren belegt Rang fünf und Rodriguez kommt als erfolgreichster Vertreter des Hauses Ferrari auf den sechsten Platz.
Anfang und Ende – Monza 1961
An den Ferrari-Piloten Ricardo Rodriguez erinnert sich Jörg-Thomas Födisch auch heute noch ganz besonders. Nach dem Training zum Großen Preis von Deutschland 1962 wartete der Rennsportfan gemeinsam mit seinem Vater am Ausgang des alten Fahrerlagers am Nürburgring auf die Idole der Formel 1. Die Autogrammjagd war eröffnet. Födisch: „An diesem Freitag drängten sich dort viele Fans und hielten gespannt Ausschau nach unseren Grand-Prix-Helden. Die mussten auf dem Weg ins Fahrerhotel ,Haupttribüne‘ ja an uns vorbei. Nervös hielten alle ihr Material für eine Unterschrift bereit – Autogrammbücher, Rennprogramme, Bilder oder auch nur ein Stück Papier. Plötzlich tauchte der Mexikaner Ricardo Rodriguez auf. Mit langen Schritten kam er aus dem Fahrerlager. Vielleicht lag ihm seiner zehnter Platz, den er im Training gefahren hatte, im Magen? Jedenfalls hatten die allermeisten Autogrammjäger bei ihm keine Chance. Ich aber hatte Glück – er blieb stehen und schenkte mir seine Unterschrift. Rodriguez stieg in diesem Moment in meiner Gunst extrem.“
In der Fachwelt galt der am 14. Februar 1942 in Mexiko-Stadt geborene Automobilrennfahrer damals als „Wunderknabe“, der in der Formel 1 eine große Karriere vor sich hatte. Sein Stern erlosch jedoch urplötzlich am 1. November 1962. An diesem Donnerstag verunglückte Ricardo Rodriguez im Training zum Großen Preis von Mexiko, der nicht zur Weltmeisterschaft zählte, mit einem Lotus tödlich. In der „Peraltada-Kurve“ der Rennstrecke von Mexiko-City prallte der 20-jährige Pilot in die Streckenbegrenzung und starb durch die Wucht des Aufpralls. Die Unfallursache wurde nie geklärt.
Ricardos älterer Bruder Pedro war ebenfalls Rennfahrer. 1979 wurde die Rennstrecke Magdalena Mixhuca in der mexikanischen Hauptstadt nach den Brüdern in „Autódromo Hermanos Rodríguez“ umbenannt.
Jörg-Thomas Födisch hat Ricardo Rodriguez – wie auch den deutschen Rennfahrer Wolfgang Graf Berghe von Trips – nie vergessen. Dabei konnte und kann er sich glücklich schätzen, einen engen Freund des mexikanischen Piloten zu kennen: dessen früheren Mechaniker Joaquin „Jo“ Ramirez Fernandez.
Jo Ramirez begleitete Rodriguez in den 1960er-Jahren als Mechaniker nach Europa und erlebte beim Großen Preis von Italien am 10. September 1961 – dem Todestag von Trips – das Debüt des damals 19 Jahre alten Piloten für die Scuderia Ferrari (Ricardo Rodriguez hatte sich damals auf Anhieb auf dem zweiten Startplatz qualifiziert und hielt fast ein halbes Jahrhundert lang danach den Rekord als jüngster Pilot, der in der Formel-1-Weltmeisterschaft einen Startplatz in der ersten Reihe erreichte). Ramirez blieb insgesamt zwei Jahre bei Ferrari, wurde später Mitarbeiter verschiedener Formel-1-Teams und verfasste im Ruhestand seine Autobiografie („Jo Ramirez: Memoirs of a Racing Man“).
Über die Begegnungen mit dem Mexikaner berichtet Födisch: „Ich lernte Jo Ramirez im Jahr 2014 bei der Oldtimer-Rallye ,Ennstal Classic‘ in Österreich persönlich kennen. Ich bat ihn, mir einige Fotos zu signieren, auf denen sein mexikanischer Gefährte Ricardo Rodriguez im Ferrari 156 ,Sharknose‘ zu sehen war. Jo kam dieser Bitte gern nach. 2018 verfasste er schließlich ein Grußwort für die Eröffnung unserer Trips-Ausstellung am Nürburgring. Später half er mehrfach bei unseren Arbeiten für das Buch zur Geschichte der legendären 1.5-Liter-Formel 1 der Jahre 1961 bis 1965. Und nun hat Jo Ramirez – extra für diese Homepage – einige Gedanken über Ricardo Rodriguez zu Papier gebracht. Herzlichen Dank dafür!“
Ein strahlender Komet aus Mexiko-City
Über Ricardo Rodriguez schreibt Joaquin Ramirez Fernandez: „Wir sind fast Seite an Seite aufgewachsen, obwohl er aus einer sehr wohlhabenden Familie stammte und ich aus bescheiden Verhältnissen. Uns verband vor allem über all die Jahre unsere Leidenschaft für den Motorsport. Wie oft waren wir als Jugendliche gemeinsam zu einer der kleinen Rennstrecken in Mexiko-City gepilgert, um dort Go-Kart-Rennen zu fahren. Diese Momente haben unsere enge Freundschaft begründet.“
Mit der Motorsportkarriere des Freundes sei es steil bergauf gegangen, so Ramirez: „Nachdem Ricardo begonnen hatte, die lokalen Rennen in allen Kategorien zu dominieren, stieg er auf größere und schnellere Fahrzeuge um. Er nahm an einige Rennen in den Vereinigten Staaten und in Europa teil, manchmal gemeinsam mit seinem Bruder Pedro – Sebring, Le Mans, Nürburgring, Montlhéry. Ricardo war so erfolgreich, dass er 1961 einen Anruf von Enzo Ferrari erhielt. Dieser bot ihm an, in diesem Jahr eines seiner Formel-1-Fahrzeuge beim Großen Preis von Italien zu fahren.“
Jo Ramirez über die Premiere des Freundes in der Königsklasse: „Ricardo wurde an diesem 10. September 1961 in Monza zu einem der jüngsten Piloten, der jemals ein F1-Auto fuhr. Und er wurde an diesem Sonntag der bei Weitem erfolgreichste Nachwuchsfahrer, nachdem er bei seinem ersten Grand-Prix-Start mit dem Ferrari ,Sharknose‘ die Pole um eine Zehntelsekunde verpasst hatte und so seinem Teamkollegen Wolfgang von Trips den Vortritt lassen musste. Hinter Ricardo kamen erst die anderen etablierten Ferrari-Piloten – Phil Hill und Richie Ginther. Danach Graham Hill auf B.R.M. und Giancarlo Baghetti auf dem fünften Ferrari. Ich erinnere mich, dass Ricardo mir ungläubig erzählte, wie die anderen Ferrari-Fahrer ihn nach Streckendetails gefragt hatten: welchen Gang er in der ,Parabolica‘- oder in der ,Lesmo‘-Kurve benutzt habe. Kopfschüttelnd sagte er: ,Die fragten mich? Aber ich war doch noch nie hier, es ist mein erstes Mal in einem Formel-1-Auto !‘ Vielleicht spiegelt dieses Debüt in Monza die Geschichte seiner kurzen und tragischen Grand-Prix-Karriere wider.“
Ricardo sei einer jener genialen Fahrer gewesen, die mit einem enormen Talent und der großartigen Möglichkeit geboren wurden, enorm schnell einen Rennwagen zu fahren, meint Jo Ramirez zum Schluss seiner Würdigung. „Mein Freund war einer jener Ausnahmepiloten, die wir nur alle paar Jahre erleben dürfen – Nuvolari, Fangio, Clark, Stewart, Prost, Senna, Schumacher. Wer weiß, wie weit unser mexikanische Meister im Leben noch gekommen wäre, ein junger Mann, der wohl viele motorsportlichen Herausforderungen zu seinen Gunsten hätte entscheiden können – wäre da nicht dieser tragische 1. November 1962 gewesen. An diesem Tag fehlten Ricardo einfach das Glück und die notwendige schützende Hand, um den Crash am Eingang der „Peraltada“-Kurve in Mexikos Autodromo zu überleben.“
Nachtrag: Pedro Rodríguez, der ältere Bruder von Ricardo, galt in den Jahren 1970 und 1971 als einer der besten Sportwagenfahrer der Welt. Er verunglückte am 11. Juli 1971 auf dem Norisring in der zwölften Runde des Rennens zur europäischen Interserie tödlich. Er war in einem Ferrari 512M gestartet, den ihm der Schweizer Rennfahrer Herbert Müller geliehen hatte.